- gregorianischer Gesang
- gregorianischer Gesang,gregorianischer Choral, der chorisch und solistisch einstimmige liturgische, mit der lateinischen Sprache verbundene Gesang der römischen Kirche in den Formen Oration, Lektion, Antiphon, Responsorium, Hymnus (Hymne) und Sequenz, die in der Liturgie von Messe (Graduale) und Stundengebet (Antiphonar) Verwendung finden. Die schon Ende des 9. Jahrhunderts einsetzende Benennung nach Papst Gregor I., dem Großen, geht auf dessen um 600 erfolgte Neuordnung der Liturgie zurück, doch bleibt ungewiss, ob diese den heutigen gregorianischen Gesang oder aber den altrömischen Gesang betraf. Über die frühchristliche Musik steht er in mittelbarer Verbindung mit der Gesangspraxis des östlichen Mittelmeerraums (byzantinische Kultur, Musik). Um die Mitte des 9. Jahrhunderts war er im Zuge der karolingischen Einheitsbestrebungen im gesamten Fränkischen Reich eingeführt und verdrängte zunehmend die damals noch lebendigen Sondertraditionen des gallikanischen Gesangs und des mozarabischen Gesangs. Nur die Tradition des ambrosianischen Gesangs ist bis heute erhalten geblieben.Das heutige Melodienrepertoire des gregorianischen Gesangs stellt keinen historisch einheitlichen Bestand dar, sondern wurde bis ins 14. Jahrhundert durch Neukompositionen erweitert. Bei diesen trat die ursprüngliche, von melodischen Modellformeln ausgehende Gestaltung zunehmend zurück, wodurch die neuen Melodien mehr oder weniger stark dem jeweiligen musikalischen Zeitstil unterworfen waren. Davon unberührt blieben die an ein festgelegtes Grundgerüst (Initium, Tenor, Mediatio, Tenor, Finis) gebundenen modellartigen Singweisen in der Psalmodie. Die vom Chor ausgeführten Gesänge sind generell durch eine schlichte Melodiebildung mit vielfach syllabischem Textvortrag gekennzeichnet, der nur von einigen (meist wenige Töne umfassenden) Melismen durchsetzt ist, wogegen die den Solisten zugewiesenen Gesänge mit reicher, vielfach ausschweifender Melismatik hervortreten. Die nicht an Ordenstraditionen gebundenen Quellen des deutschen Sprachbereichs (mit Einflüssen auf Skandinavien und Polen) weisen in den Melodien häufig Abweichungen auf, die besonders eine Bevorzugung größerer Intervalle (z. B. Terz statt Sekunde) erkennen lassen; eine beweiskräftige Erklärung dieses als »deutschen« oder »germanischen Choraldialekt« bezeichneten Phänomens steht noch aus.Die älteste schriftliche Überlieferung lässt sich in Handschriften des 8. und 9. Jahrhunderts fassen, die bei fehlender musikalischer Notierung nur über Repertoire und Ordnung der Texte Aufschluss geben. Zusätzliche Hinweise vermitteln gleichzeitige Tonare, in denen die Gesänge nach den Kirchentönen zusammengestellt sind. Der bis dahin mündliche Überlieferung der Melodien traten seit dem 9. Jahrhundert in den Handschriften linienlose Neumen zur Seite, die die Verbindung der Textsilben mit einem oder mehreren Tönen und in gewissem Umfang auch die Melodierichtung anzeigen. Die Angaben über Tonhöhe und Intervallgröße wurden seit dem Ende des 10. Jahrhunderts in der diastematischen Notation fixiert. Mit der Notierung Guidos von Arezzo auf Linien im Terzabstand (seit dem frühen 11. Jahrhundert) wurden die Melodien definitiv in das diatonische System eingebaut und verloren alle irrationalen Elemente der älteren Praxis. Der bis dahin rhythmische Vortrag der Gesänge verflachte schnell. Da im Vortrag wie in der Aufzeichnung der Noten kaum noch zwischen verschiedenen Längen und Kürzen unterschieden wurde, erhielt der gregorianischen Gesang nun die Bezirke Cantus planus (lateinisch »ebener Gesang«) im Unterschied zum Cantus mensurabilis (dem - auch in der Notation sichtbar - nach verschiedenen Notenwerten »gemessenen Gesang« der mehrstimmigen Musik). Tausende von Handschriften und auch spätere Drucke in römischer Quadrat- oder gotischer Hufnagelnotation überliefern das Repertoire des gregorianischen Gesangs.Auf dem Konzil von Trient (1545-63) wurden Reformbestrebungen wirksam, die unter dem Einfluss des Humanismus ein neues Wort-Ton-Verhältnis in den Gesängen forderten. Die Melodien wurden in der Folge stark verändert, sei es durch zum Teil radikale Kürzungen oder durch Umbildungen der melodischen Gestalt. Diese Neufassung des gregorianischen Gesangs fand ihren Niederschlag in der 1614/15 gedruckten »Editio Medicaea«, an der die italienischen Komponisten F. Anerio und F. Soriano wesentlich beteiligt waren. Diese Ausgabe behielt maßgebende Bedeutung, bis im 19. Jahrhundert die Benediktiner des Klosters Solesmes in Frankreich eine auf mittelalterliche Überlieferung zurückgreifende Ausgabe des Graduales (1883) und des Antiphonars (1891) vorlegten. Die hier eingeleitete Wiederherstellung der alten Gesangstradition wurde 1903 in der nach ihren Anfangsworten benannten Enzyklika »Motu proprio« (lateinisch »Aus eigenem Antrieb«) von Papst Pius X. gutgeheißen und führte zu der für die gesamte römisch-katholische Kirche bis heute verbindliche Fassung der Gesänge in der »Editio Vaticana« (u. a. Kyriale, 1905; Graduale, 1908; Antiphonar, 1912). Das Festhalten an eigenen Choralüberlieferungen wurde nur den Orden der Zisterzienser, Dominikaner und Prämonstratenser sowie dem ambrosianischen Traditionskreis zugestanden. Das 2. Vatikanische Konzil bestätigte 1963 den gregorianischen Gesang als den Gesang der römischen Liturgie, förderte aber gleichzeitig mit der Genehmigung anderer Kirchenmusik und v. a. der Volkssprache in der Liturgie eine zunehmende Einschränkung seiner Verwendung.P. Wagner: Einf. in die Gregorian. Melodien, 3 Bde. (2-31911-21, Nachdr. 1970);Gesch. der kath. Kirchenmusik, hg. v. K. G. Fellerer, 2 Bde. (1972-76);S. Corbin: Die Neumen, in: Palaeographie der Musik, hg. v. W. Arlt, Bd. 1, Tl. 3 (1977);L. Agustoni: Gregorian. Choral, in: Musik im Gottesdienst, hg. v. H. Musch, Bd. 1 (21983);Zeitschrift: Beiträge zur Gregorianik (1985 ff.).Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:gregorianischer Gesang: Gottesdienstliche Musikgregorianischer Gesang im Fränkischen Reich
Universal-Lexikon. 2012.